Der Patient sitzt vor mir, schaut mich erwartungsvoll an. Der Arme – er tut mir richtig leid! Soll ich ihm die Wahrheit sagen? Soll ich ihm wirklich sagen, dass ich keine – null Ahnung habe!? Nein – das kann ich nicht. ICH könnte es verkraften, aber ER nicht.
Wenn er wüsste, wie wenig Ahnung ich eigentlich habe, würde er auf der Stelle – so wie er gerade gekleidet ist (im Schlafanzug und mit zerzausten Haaren) aus dem Zimmer rennen – den Stationsflur entlang.
Der Arzt an der Schwesterntheke würde verwundert aufschauen. Und alle – vom Chefarzt bis zum Zivi würden mein schuldbewusstes Gesicht durch sein nun ehemaliges Patientenzimmer schauen sehen, wie ich ihm schuldbewusst hinterher schaue: Seine Viggo lugt noch unter dem Nachthemd hervor; an der anderen Hand die blauen Flecke der Fehlversuche…
Seine Flucht durch den Haupteingang würde die Aufmerksamkeit des gesamten Krankenhauses auf sich lenken, wie er auf der Straße davon läuft – alle Autos bleiben stehen. Und in der morgigen Bildzeitung hieße es dann „Patient (57) ergreift die Flucht – ahnungsloses Krankenhauspersonal“.
Das alles wäre allerdings nichts im Vergleich zu der Standpauke, die ich mir noch am selben Tag bei der Mittagsbesprechung vom Chefarzt höchstpersönlich anhören müsste – vor versammelter Ärztemannschaft der gesamten Abteilung. Ich könnte mich nie wieder blicken lassen!
… genug der Tagträume – das schwungvolle „Guten Morgen” der Krankenschwester reißt mich aus meinen Gedanken.
Nein – das würde ich nicht überleben! Also mache ich es wie jedes Mal: einfach freundlich lächeln und viel Erfahrung und Selbstbewusstsein ausstrahlen. Schließlich weiß der Mann vor mir ja nicht, dass ich in den letzten Zimmern alles verhauen habe.
Mit etwas Übung und noch viel mehr Glück schaffe ich auch diese Blutabnahme an dem Patienten mit Adipositas per magna.
Der kleine Blutfleck auf der Decke ist nicht die Welt – die Schwester soll sich nicht so anstellen – das nächste Mal lege ich was unter.
Diese Blutabnahme habe ich geschafft, aber ich zittere schon vor der nächsten ein Zimmer weiter…
Sadia ist Medizinstudentin und Lokalredakteurin für Bochum